Bürgerrechtsorganisation für Menschen mit Behinderung

Von Yann Ruppersberg
Marburg-Wehrda. Warum sollte man Mitglied im Marburger Ortsverein der Lebenshilfe werden? Eine Frage, die selbst den Vorsitzenden Roland Wagner in der Vergangenheit häufiger ins Grübeln brachte. Denn obwohl er schon auf mehr als 40 Jahre Arbeit bei der Lebenshilfe zurückblickt, fehlte ihm bislang eine passende Antwort.
Im Vergleich zum Lebenshilfewerk Marburg-Biedenkopf nehme man die beiden ehrenamtlichen Ortsvereine in Marburg und in Biedenkopf in der Öffentlichkeit nämlich kaum wahr. Dabei besitzen die dortigen Vertreterinnen und Vertreter beispielsweise die Stimmenmehrheit in den Gremien des Lebenshilfewerks. Zudem leisten die Ortsvereine finanzielle Unterstützung, wenn bei den Einrichtungen des Lebenshilfewerks Investitionen und Baumaßnahmen anstehen.
Veränderungsprozess
Ende 2022 eingeleitet
Dennoch seien die Ortsvereine „nie in Erscheinung getreten“. Daher leitete der Verein in Marburg, der in diesem Jahr sein 65-jähriges Bestehen feiert, Ende 2022 einen Veränderungsprozess ein. „Wir wollen dem Verein ein Profil geben und Aufgaben suchen, um die Stimme für Rechte und Belange von Menschen mit Behinderung zu erheben“, sagt Wagner. In dem Zusammenhang wurde der Vorstand bei der Mitgliederversammlung im Juni vergangenen Jahres nicht nur verjüngt, sondern auch durch unmittelbar Betroffene sowie durch Selbstvertreterinnen und -vertreter erweitert. „Das sind die Personen, die man braucht, um den Verein nach vorne zu bringen. Die wissen, wo der Schuh drückt“, sagt der Vorsitzende. Laut Vorstandsmitglied Armin Herzberger habe der Ortsverein damit den weiten Weg von einer Interessenvertretung der Eltern von geistig behinderten Menschen hin zu einer Bürgerrechtsorganisation für und mit Menschen mit Einschränkungen zurückgelegt.
Im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention und des Benachteiligungsverbots im deutschen Grundgesetz sieht der Vorstand Inklusion als zielführende Aufgabe. „Wir möchten gerne ein Sprachrohr sein, weil wir ganz viele Menschen haben, die sich nicht äußern können. Die haben auch ein Recht, am Leben teilzunehmen“, sagt Friedhelm Klös. Der zweite Stellvertreter wünsche sich, dass „jeder seinen Platz bekommen soll und kann, den er gerne hätte“.
Daran, ergänzt Wagner, wolle der rund 200 Mitglieder zählende Ortsverein mit seiner neuen Strategie ansetzen und sich speziell an politischen Diskussionen beteiligen. „Oft werden Entscheidungen von Personen getroffen, die gar nicht wissen, worüber sie entscheiden.“
Gefühl einer
Aufbruchsstimmung
In einem Workshop im Juli 2023 arbeitete der Verein konkrete Ziele heraus, darunter etwa eine verbesserte Öffentlichkeits- und Netzwerkarbeit sowie die Organisation von Informationsveranstaltungen, Fachvorträgen, inklusiven Events, Fahrten oder Festen. Seit Anfang Juni gibt es eine eigene Homepage, auch die Einrichtungen eines Social-Media-Auftritts sowie der AGs Öffentlichkeitsarbeit und Event sind in Arbeit. Aktuell telefoniert der Vorstand zudem seine Mitglieder ab, um sich selbst neu vorzustellen, Unterstützung an-, aber auch Erwartungen abzufragen.
Darüber hinaus gibt es Themenstammtische mit politischen Gästen. Zwei fanden in diesem Jahr bislang statt, darunter ein Austausch mit den Landtagsabgeordneten aus dem Landkreis über Rechtsradikalismus, die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes und den Fachkräftemangel. „Das war für die Politiker ein Erlebnis, dass auch bei Menschen mit Behinderung eine feste Meinungsbildung vertreten ist“, sagt Wagner.
Er habe eine „sehr gute und inhaltlich interessante Veranstaltung in einer ganz anderen Atmosphäre als im Wahlkampf“ wahrgenommen. Bei einem anderen Termin ging es um das Mobilitäts- und Verkehrskonzept „Move 35“, weitere Stammtische in diesem Jahr sollen sich etwa mit den Punkten Erbrecht/Behindertentestament oder der Patientenverfügung für Menschen mit Behinderung befassen. Wie der Vorsitzende berichtet, habe die Umstrukturierung eine Aufbruchsstimmung ausgelöst, der Ortsverein samt Vorstand sei aktiver geworden und werde dadurch anders wahrgenommen.
„Es war vorher noch nie der Fall, dass der Ortsverein zu einer Diskussionsveranstaltung eingeladen hat.“ Der in Angriff genommene Neustart scheint Früchte zu tragen: Inzwischen könne Wagner sich mit Überzeugung für eine Mitgliedschaft im Ortsverein aussprechen.
Quellenangabe: Oberhessische Presse vom 25.07.2024, Seite 4